Mentale Gesundheit wird immer mehr zu einem zentralen Thema für viele Menschen. Dies ist auch für Epileptiker*innen der Fall, für die alltägliche Situationen ganz neue Herausforderungen mit sich bringen. Ein mögliches Hilfsmittel bieten E-Textiles. Wie Elektronik in der Mode Stress reduziert und Epilepsiepatient*innen unterstützen kann, zeigt Pauline Stockmann, Werksstudentin am Fraunhofer IZM, mit ihrer Kollektion E-MERGENCE.
In Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer IZM designte sie im Rahmen ihres Bachelorabschlusses fünf verschiedene Outfits und setzte sich mit den Fragen auseinander, welche Herausforderungen und Lösungsansätze es bei E-Textiles in Hinblick auf Nachhaltigkeit gibt, sowie welche Arten von Epilepsie einen therapeutischen Ansatz auf psychologischer und/ oder physiologischer Ebene durch E-Textiles zulassen.
Dafür arbeitete sie mit einem am Fraunhofer IZM entwickelten Toolkit und integrierte die Komponenten mit einem E-Textile Bonder. Pauline Stockmann sprach im Interview mit RealIZM über ihre Inspirationen, E-Textiles und Nachhaltigkeit und warum es zukünftig mehr Elektronik in der Mode geben sollte.
Zu Beginn: Kannst du einen kurzen Überblick über die Kollektion geben?
Pauline Stockmann: Die Kollektion E-MERGENCE entstand im Rahmen meiner Bachelor-Arbeit. Als Modedesignstudentin an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin (HTW) war ich bereits vertraut mit E-Textiles, vor allem durch meine Arbeit als Werksstudentin am Fraunhofer IZM Berlin. Als es darum ging, ein Thema für die Arbeit zu finden, lag dieses also nahe. Ich habe mich mit Kolleg*innen der Arbeitsgruppe „System-on-Flex“ ausgetauscht und letztendlich diese Kollektion entworfen.
Es sind fünf Outfits entstanden, die sich alle mit dem Thema Epilepsie und mentaler Gesundheit beschäftigen und für die Umsetzung elektronische Bauteile und Fertigungstechniken nutzen, die im Textile Prototyping Lab (TPL) und im Fachbereich „System-on-Flex“ am Fraunhofer IZM entwickelt wurden – hauptsächlich das TPL Toolkit und das Textile Bonding. Dafür steht auch der Name E-MERGENCE. Zum einen beschreibt er, dass es sich um eine E-Textile-Kollektion handelt. Zum anderen geht es aber auch darum, die Komplexität der Arbeit in ihrer Interdisziplinarität und ihren inhaltlichen Vernetzungen zu unterstreichen.
„E-MERGENCE“ beschreibt die komplexe Funktionsweise und voranschreitende Entwicklung von E-Textiles sowie das Zusammenspiel der verschiedenen Disziplinen, die sie vereinen. Der Begriff steht jedoch auch für die Zusammenführung der verschiedenen Themenbereiche E-Textiles, Nachhaltigkeit und Epilepsie innerhalb meiner Bachelorarbeit.
Es ging aber nicht nur darum, die Entwürfe zu realisieren, sondern dabei bewusst innovative Ansätze und Lösungen für den Einsatz unserer Technologien (durch Testen und Erforschen) zu verfolgen. Wie integriert man leitende Materialien in Textilien? wie können Techniken wie Drucken, Sticken und Schnittkonstruktion genutzt werden, um Elektronik zu integrieren?
Was mich gereizt hat, war die Idee, eine Anwendung für E-Textiles zu finden, die einen ästhetischen und neuartigen Wert hat und dafür diverse Technologien des Fraunhofer IZM einsetzt. Dafür hat die Kollektion auch in ihrem Anwendungsbereich einen experimentellen Charakter. Sie bezieht sich beispielsweise sowohl auf statistische Werte über das Wetter als auch auf sehr individuelle Erkenntnisse aus der Verhaltenstherapie von Epileptiker*innen oder Menschen mit Angststörungen.
Wenn es um Design geht, wird oft nach Inspiration gefragt. Kannst du etwas mehr über deinen Prozess erzählen? Woher genau kam die Idee hinter E-MERGENCE?
Pauline Stockmann: Meine Stelle am Fraunhofer IZM hat viel zum Kreativprozess beigetragen. Das Institut feiert 2023 sein 30-jähriges Bestehen und meine Betreuerin schlug vor, dies als Inspiration zu verwenden. Um zu zeigen, was das Forschungsinstitut in den letzten 30 Jahren für die Weiterentwicklung der Mikroelektronik getan hat und was mittlerweile dank dessen möglich ist.
Der retrospektive Blick auf die Erkenntnisse des Instituts und die Entwicklungen von E-Textiles hatten einen wesentlichen Einfluss auf meinen Schaffensprozess. Dabei fiel mir immer wieder auf, wie ähnlich sich bestimmte biologische und elektronische Prozesse sind. Organismen und Computer haben viele Gemeinsamkeiten. Das wollte ich in der Kollektion nutzen.
Links: „Das blaue Schwarze“ | Rechts: „Allwetter-Trenchcoat“ (ohne Mantel)
Das Design der Kollektion ist inspiriert von Elektronik und neuronalen Netzwerken | © Francis Viebeck
Nervenzellen und neuronale Netzwerke dienten als Inspiration, da sie sich sinnbildlich auf die Funktionsweisen des TPL-Toolkits übertragen lassen können. So können beispielsweise Temperatursensoren das Wetter „erfühlen“ und weitere Module eine Reaktion in Form von Wärmeentwicklung im Textil einleiten. Oder LEDs, die bestimmte Gefühlszustände oder Reaktionen abbilden. Die Printdesigns auf den Stoffen sind ebenfalls davon inspiriert, genauso wie von Materialien, die in Elektronik verwendet werden.
Die Kollektion ist dahingehend designt, dass man sie vielseitig einsetzen kann. Ausgangspunkt war die Bewältigung von Epilepsie, einer chronischen Erkrankung des Nervensystems, die sehr individuell zu behandeln ist und daher – verallgemeinert gesprochen – verschiedene Ansatzpunkte in der Therapie benötigt, beispielsweise durch Stressmanagement.
Nonverbale Kommunikation spielt auch eine wichtige Rolle, daher können zum Beispiel beim Outfit „Empathie“ zwei der Kleidungsstücke miteinander interagieren, indem Daten gesendet werden und so die Träger*innen über Farbimpulse über das Stresslevel der anderen aufgeklärt werden. Genutzt werden dafür Sensoren, die den Hautwiderstand auf der Handfläche messen, und LEDs, die diese Zustände visuell darstellen. Die Datenübertragung erfolgt via Infrarot kontaktlos. Das Outfit zelebriert ein klassisches Stilmittel in Smart Textiles auf eine neue Art und Weise und spielt auf die Informationsweiterleitung zwischen Nervenzellen an.
Links & Rechts: Beim Outfit „Empathie“ kommunizieren zwei Kleidungsstücke miteinander | © Micha Omni
Gab es noch weitere technische Komponenten, die in der Kollektion zum Einsatz kamen?
Pauline Stockmann: Ja. In den Entwürfen habe ich auch mit Textilen Leiterplatten (TexPCBs) gearbeitet. Darunter versteht man auflaminierbare Leiterplatten, die aus nanosilberbeschichteten Fasern bestehen und ein dynamisch belastbares und elektrisch leitfähiges Basismaterial bilden. Bevorzugt werden für TexPCBs vor allem Vliesstoffe, da diese ein breites Anwendungsspektrum ermöglichen.
In der Kollektion eingesetzt wurden die TexPCBs hauptsächlich für Sensoren aufgrund ihrer Eigenschaften und der Individualisierbarkeit/Anpassbarkeit ihrer Designs. Und ähnlich wie bei den Teilen des TPL-Toolkits lassen sich die TexPCBs auch wieder ablösen.
Außerdem wurden bestimmte Elemente des TPL-Toolkits mithilfe des E-Textile Bonders, einer am Fraunhofer IZM entwickelten Verbundmethode, angebracht. Beim textilen Bonding werden elektronische Bauteile durch Hitze und Druck mit dem Textil verbunden.
Dass sich Dinge umkehren oder auflösen lassen, scheint eine wichtige Rolle zu spielen. Kannst du erklären, warum?
Pauline Stockmann: Die Umkehrbarkeit hat vor allem einen Nachhaltigkeitshintergrund. E-Textiles stehen im Moment vor der Herausforderung, dass sie nachhaltige Ansätze erschweren, anstatt sie zu begünstigen. Für E-Textiles werden diverse Materialien miteinander verbunden. Möchte man ein Kleidungsstück aussortieren oder entsorgen, weil es kaputt ist, kann dies nicht so einfach getan werden.
Viele Kleidungsstücke bestehen aus Materialmischungen, die schwer oder gar nicht auseinanderzunehmen sind, was das Recycling erschwert. Wenn Elektronik ins Spiel kommt, wird dies nochmals komplizierter. Dass man die einzelnen Komponenten meiner Kollektion daher bei Bedarf ablösen oder austauschen kann, war mir sehr wichtig. Außerdem habe ich darauf geachtet, mit Monomaterialien aus natürlichen Fasern, recyceltem Polyester oder Deadstock zu arbeiten sowie mit der Digitaldruckmethode wasser- und ressourcenschonend zu arbeiten.
Als Kontaktierungsmethode kommt in diesem Sinne auch das textile Bonden stärker zum Tragen. Da die geklebten Kontakte zuverlässiger sind aber auch reversibel. Es geht um zirkuläres Design – also die Idee, den gesamten Produktkreislauf bereits von Beginn an mitzudenken. Dies fängt bei den textilen Fasern an und endet in der Entsorgung des Kleidungstückes.
Das TPL-Toolkit ist nun schon öfters zur Sprache gekommen – warum genau bietet es für solche Projekte so viel Potenzial?
Pauline Stockmann: Das TPL-Toolkit wurde am Fraunhofer IZM im TPL – dem Textile Prototyping Lab – entwickelt. Es soll es Designer*innen erleichtern, elektronische Komponenten in ihre Projekte zu integrieren. Das Prototyping-Kit besteht aus elektronischen Modulen, Sensoren oder LEDs, die einfach auf die Textilien gestickt/genäht oder gebondet werden können.
Einzelkomponenten des E-Textile-Baukastens | © Fraunhofer IZM
In meinem Fall habe ich Module verwendet, um bestimmte Prozesse sichtbar zu machen oder den Kleidungsstücken einen praktischen Nutzen zu geben. So zum Beispiel im Outfit „Dress to Distract“, bei dem mich verhaltenstherapeutische Ansätze inspiriert haben. Die elektronische Komponente im Rollkragenpullover nutzt Bewegungssensoren, um eine Möglichkeit zum aktiven Handeln zu bieten. In stressintensiven, herausfordernden Momenten kann es für Nutzer*innen von Vorteil sein, beruhigende oder ablenkende Sequenzen zu initiieren, die mithilfe von Vibrationsmotoren ausgespielt werden.
Oder beim „Allwetter-Trenchcoat“. Bei diesem werden die Veränderung des Luftdrucks und der Luftfeuchtigkeit mithilfe eines Sensors gemessen und durch eine subtile Farbveränderung – orange und blau – an zwei Stickereien an den Taschen visualisiert. Da Menschen mit Epilepsie sensibel für Wetteränderungen wie beispielsweise den Luftdruck sein können und diese gegebenenfalls einen Anfall auslösen, kann der Trenchcoat frühzeitig warnen und so als Hilfsmittel eingesetzt werden.
Links: Beim Outfit „Dress to Distract” sitzen Sensoren in den Armen und geben sanfte Vibrationen an den Tragenden im Brustbereich ab. | © Micha Omni
Rechts: Der „Allwetter-Trenchcoat“ (mit Mantel) misst Veränderungen im Wetter und warnt durch Farbimpulse vor Luftdruckveränderungen | © Francis Viebeck
Das Potenzial des TPL-Toolkits liegt darin, dass es die Umsetzung erleichtert. Ich beschäftige mich zwar mit Elektronik in meiner Kollektion, aber ich bin zuallererst Designerin. Mit dem Toolkit ist es möglich, auf den ersten Blick komplizierte Prozesse ohne tiefgreifendes elektronisches Know-how zu realisieren. Das bietet große Möglichkeiten für die Zusammenarbeit zwischen Designer*innen und Ingenieur*innen und das eigene Ausprobieren.
Das TPL-Toolkit basiert auf einem I²C-Kommunikationsbus und kann mit der freizugänglichen Arduino Software DIE programmiert werden. Teil des Toolkits sind sechs Standartmodule1:
Beschreibung | Elektronische Komponente |
---|---|
Hauptsteuergerät | Cortex-M0 Mikrocontroller / USB-Schnittstelle / Benutzer-LED |
Programmierbare RGB-LED | Red/Green/Blue |
Trägheitssensor | Beschleunigungsmesser/Gyroskop/Magnetometer (10 Bit) |
6x Analog-Digital-Wandler | 6 Channel/8 bit |
Temperatur- und Luftfeuchtigkeitssensoren | Feuchtegenauigkeit ±2%/Temperaturgenauigkeit ±0.2% |
Verbindet zusätzliche 12C-Sensoren | 2-Wege-Schalter |
All dies klingt nach einem Projekt, das bereits mit einem Bein in der Zukunft steht. Was wären nächste Schritte, die E-Textiles berücksichtigen müssen?
Pauline Stockmann: Durch die Komplexität von E-Textilesist diese Frage nicht so leicht zu beantworten, zumal es ja schon seit Langem E-Textiles auf dem Markt gibt. Generell ist und bleibt Nachhaltigkeit eines der wichtigsten Themen. Es gibt zurzeit einen allgemeinen Trend dahin, zum Beispiel in der Materialforschung, und ich bin gespannt, wie sich das in den nächsten Jahren entwickeln wird.
Außerdem sollte im Bereich E-Textiles besonders darüber nachgedacht werden, wo bzw. wie man elektronische Bauteile integriert. Gerade weil das Recycling noch mit Herausforderungen verbunden ist, müssen Teile mit Bedacht hergestellt werden. Zu einer nachhaltigeren Performance trägt aber auch die Langlebigkeit eines Produktes bei.
Im Fall von E-Textiles kann dies z.B. durch Waschbarkeit erzielt werden oder dadurch, dass einzelne Komponenten reparierbar bzw. austauschbar sind (Modularität). An der Waschbarkeit wird unter anderem auch am Fraunhofer IZM geforscht und das TPL-Toolkit kann als ein Beispiel für einen modularen Aufbau von E-Textiles dienen.
Besonderen Input gaben aber auch meine Kolleg*innen von der Forschungsgruppe „System-on-Flex“. Dank ihrer Kollaboration konnte die Kollektion überhaupt erst in ihrer Komplexität geplant und realisiert werden. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit, von der ich am Fraunhofer IZM profitieren konnte, ist besonders wichtig, wenn es um übergreifende Fachgebiete wie E-Textiles geht.
Die Forschungsgruppe „System-on-Flex„ (SoF) am Fraunhofer IZM konzentriert sich auf die Weiterentwicklung der Bereiche flexible Hybrid-Elektronik (FHE), dehnbare Elektronik und elektronische Textilien.
In der Gruppe SoF werden in einem multidisziplinär aufgestellten Team seit über 20 Jahren erfolgreich innovative E-Textiles entwickelt, untersucht und validiert. Die zuverlässige Verbindung und Kontaktierung textilintegrierter Leiter, Sensoren und Schaltungen mit starren, flexiblen oder dehnbaren funktionalen PCB-Modulen steht dabei im Vordergrund, wie die in der Arbeitsgruppe entwickelte innovative Textil-Bond-Technologie zeigt.
Zum Schluss noch: Was ist für dich einer der wichtigsten Beiträge, die deine Kollektion leisten kann?
Pauline Stockmann: Mit der Kollektion ging es mir vor allem darum, Verbindungen im elektronischen und im menschlichen Bereich zu schaffen. Zwischenmenschliche Interaktion ist wichtig und ich glaube, dass meine Kollektion dazu anregen kann, dies zu reflektierfen. Denn sie ist nicht nur in einem interdisziplinären Team entstanden, sondern zeigt auch, wie einfach es ist, miteinander zu kommunizieren, wenn man kreative Wege findet.
Quelle:
1 Garbacz, Kamil; von Krshiwoblozki, Malte; Rotzler, Sigrid; Semenec, Markus; Stagun, Lars: Modular E-Textile Toolkit for Prototyping and Manufacturing. In: proceedings. 2021.
Add comment