Miniaturisierte, modulare und verkapselte Kamera zur Endoskopie, ausgerüstet mit integrierter Bilderfassung und Speicherung, entwickelt im Projekt EndoTrace | © Fraunhofer IZM I Volker Mai

Elektronische Pillen: Neue Wege in der Diagnostik und Therapie des Magen-Darm-Trakts

Der Magen-Darm-Trakt hat eine große Bedeutung für die Gesundheit. Endoskopische Untersuchungen sind für Patient*innen oftmals mit erheblichen Unannehmlichkeiten verbunden. Die gängigen Methoden erfordern in vielen Fällen eine Vollnarkose und sind auch für ärztliches Fachpersonal eine Herausforderung. Elektronische Pillen – Mikrosysteme zur Diagnostik und Therapie – könnten Abhilfe schaffen.

Das Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration IZM begleitet die Entwicklung von Pillen-Mikrosystemen seit über 10 Jahren und unterstützt medizintechnische Partner*innen durch sein Know-how im Bereich der Mikrotechnologie und der innovativen Integrationsverfahren. Dr. Andreas Ostmann, Leiter der Abteilung System Integration und Interconnection Technologies, gab RealIZM einen Einblick in verschiedene Entwicklungsprojekte elektronischer Pillen, an denen das Fraunhofer IZM bisher beteiligt ist.

Elektronische Pillen werden sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie im Magen-Darm-Trakt eingesetzt. Je nach Anwendungsfall gestaltet sich ihr Aufbau verschieden. Mit Mikrokameras ausgestattete Pillen unterstützen beispielsweise bei der bildgebenden Diagnostik in der Endoskopie. Sogenannte Reservoirpillen werden in der Therapeutik eingesetzt. Sie beinhalten Medikamente in flüssiger Form, die mithilfe von Aktoren (Mikropumpen) freigesetzt werden. Eine präzise, genaue und reproduzierbare Dosierung von pharmazeutischen Wirkstoffen im Darm eröffnet neue Behandlungsansätze.

Packagingansätze für Pillen-Mikrosysteme

Bei der Entwicklung von Pillen-Mikrosystemen stehen Mikrotechnolog*innen vor der Herausforderung, sehr viel Technik auf kleinstem Raum integrieren zu müssen. Um beispielsweise die orale Aufnahme von sogenannten „Pillen-Kameras“ für Patient*innen sicher und schmerzfrei zu gestalten, sollte deren Größe idealerweise maximal nur 10 mm im Durchmesser und 25 mm in der Länge betragen.

Um die notwendigen Bauteile auf der Leiterplatte zu integrieren, setzen die Forscher*innen je nach Anwendungsfall auf einen der folgenden drei Packagingansätze. Für Pillen-Mikrosysteme mit geringerem Funktionsumfang und kurzer Einsatzdauer eignen sich doppelseitig bestückte SMDs, die auf einem schmalen PCB angebracht werden. Komplexere Pillensysteme mit z.B. einer Betriebszeit von mehreren Stunden erfordern dagegen gestapelte 3D-Komponenten. Diese können entweder mit einer Falt-Flex-Technik oder mit Mikro-Steckverbindungen realisiert werden.

Links: Schematischer Aufbau einer doppelseitig bestückten SMD-Pille | © Fraunhofer IZM
Mitte: Schematischer Aufbau einer gefalteten Flex-Pille | © Fraunhofer IZM
Rechts: Schematischer Aufbau einer Pille mit gestapelten PCBs mit eingebetteten Bauteilen.
| © Fraunhofer IZM

Neben den spezifischen Anwendungsgeometrien führen die Forscher*innen am Fraunhofer IZM zudem Zuverlässigkeitsbetrachtungen, Biokompatibilitätsbewertungen und Risikobetrachtung nach ISO 14971 durch.

Modulare Endoskopie-Kapsel zur Dünndarm-Diagnose – Forschungsprojekt „endoTrace“

Mit den bisher gängigen endoskopischen Verfahren lässt sich der zirka 5 bis 6 Meter lange Dünndarm nicht untersuchen. Für eine schmerzfreie und unaufwändige Untersuchung des Verdauungstrakts hat das Fraunhofer IZM gemeinsam mit den Projektpartnern Ovesco Endoscopy AG und AMS im BMBF-Projekt „endoTrace“ ein hochintegriertes, pillenförmiges Kamerasystem entwickelt.

Die Pille wird durch die natürliche Peristaltik im Laufe mehrerer Stunden durch den Körper bewegt. Nach einer Bewegung von zwei bis drei Millimetern nehmen Kameras hochaufgelöste Bilder der Darmwand auf. Bisher (Projektstand 2016) erfolgte dies durch eine Zeitsteuerung, unabhängig davon, ob sich das Kapselendoskop bewegt oder nicht. Anstatt von mehreren tausend Fotos erfasst die neue Pillen-Kamera nur rund die Hälfte an auswertbaren Daten. Diese Datenreduktion beschleunigt die Diagnose.

Im Inneren der Bonbon-großen Pille steckt Hightech auf kleinstem Raum. Insgesamt befinden sich fünf Kameras, ein Tracer, ein LED-Licht, ein FPGA für die Bildkompression, ein Flash-Speicher für die Bildspeicherung, ein Mikrocontroller und drei Mikro-Batterien in der nur 10 mm x 20 mm kleinen Kapsel. Die Kameras sind teilweise gekippt angeordnet, um das Sichtfeld zu vergrößern. Die Bilder werden in der Kapsel gespeichert. Durch eine Kombination aus Embedding-Technologie, Modul-Stapelung und Semi-Flex-Leiterplatte werden die einzelnen Komponenten in einem kompakten, miniaturisierten System zusammengeführt.

Links: Schematischer Aufbau der Kamerapille „endoTrace“ | © Fraunhofer IZM
Rechts: Stapelung der elektronischen Komponenten, Anschnitt | © Fraunhofer IZM

Magnetische Magenspiegelung per Kamerapille – Forschungsprojekt „nuEndo“

In dem vom BMBF geförderten Projekt „nuEndo“ entwickelten die Wissenschaftler*innen des Fraunhofer IZM gemeinsam mit den Projektpartnern Ovesco Endoscopy AG, der SENSODRIVE GmbH und dem Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart einen funktionsfähigen Demonstrator einer Kamera-Pille zur schlauchlosen Magenspiegelung, Darmkrebsvorsorge und Untersuchung des kompletten Magen-Darm-Trakts.

Bei der Entwicklung der nuEndo-Kapsel galt es, zwei technologische Herausforderungen zu meistern. Eine zentrale Aufgabe bestand darin, den Energiespeicher der Batterie so zu gestalten, dass er mindestens für einen 20-minütigen Betrieb der Beleuchtung, Bilderfassung sowie Datenverarbeitung und -übertragung ausreicht. Hinzu kam, die Datengeschwindigkeit für eine ruckelfreie Bildübertragung in Echtzeit sicherzustellen.

Ein integrierter Magnet ermöglicht es, die Kamerapille mithilfe eines kooperierenden Führungsarms gezielt durch den Magen-Darm-Trakt zu steuern. Das ärztliche Personal kann die Kapsel mit magnetischer Kraft im Inneren der Patient*innen vor- und zurückbewegen, sich umsehen und Bilder in Echtzeit aufnehmen. Bei Bedarf kann mithilfe eines Schlauchendoskops sofort therapeutisch eingegriffen werden.

Elektronik, Kamera und ein Magnet wurden in eine semiflexible Leiterplatte integriert. Diese wurde um die Batterie herumgefaltet, so dass für den Energieträger ausreichend Platz vorhanden ist. Eine glatte Oberfläche und ein Durchmesser von rund 11 mm erleichtern das Schlucken. Für die Patient*innen sind schlauchlose Diagnoseverfahren deutlich schonender. Die orale Aufnahme einer Kapsel ist ein natürlicher Vorgang. Das bisher komplizierte Einführen eines Schlauchendoskops entfällt. Zudem kann die Untersuchung, die im Anschluss an die Einnahme der Kapsel erfolgt, ohne Narkose und als Erstdiagnose vom hausärztlichen Fachpersonal durchgeführt werden.

Links: Halbflexible Leiterplatte mit Komponenten | © Fraunhofer IZM
Mitte: Semi-Flex-Leiterplatte mit 3D-gestapelten Modulen; Leerraum Batterie und Magnet |

© Fraunhofer IZM
Rechts: „nuEndo“-Kapsel geschlossen im Größenvergleich mit einer 1-Cent-Münze | © Fraunhofer IZM

Modulares System für präzise Medikamentendosierung – Forschungsprojekt „e-Pille“

2021 hat die Fraunhofer-Gesellschaft das Forschungsprojekt „e-Pille“ gestartet, um die Formulierungsentwicklung neuer Medikamente für die orale Verabreichung zu optimieren. Unter Leitung des Fraunhofer ITMP forschen das Fraunhofer EMFT und das Fraunhofer IZM gemeinsam an einem innovativen Ansatz zur Verfolgung der Arzneimittelabsorption und Verbesserung der Arzneimitteltherapie. Das Projekt läuft noch bis 2024.

Als Alternative zur Intubation sollen zukünftig elektronisch gesteuerte Kapseln zum Einsatz kommen. Durch ein elektronisches Signal erfolgt die Freisetzung eines Testmedikaments an der gewünschten Stelle im Magen-Darm-Trakt. Die Idee ist nicht neu, bisher sind solche Kapseln jedoch sperrig und schwierig zu schlucken. Ziel dieses Forschungsprojektes ist, mithilfe der Miniaturisierung und Integration innovativer Packaging-Technologien die Kapselgröße auf die Größe einer Multivitaminpille zu reduzieren. Zugleich soll eine präzise, genaue und reproduzierbare Dosierung des Testmedikaments sichergestellt werden.

Aufgrund der vielseitigen Funktionalitäten der „e-Pille“ setzen die Wissenschaftler*innen auf ein modular aufgebautes System. Steckbare Module mit integrierten Komponenten ermöglichen es, parallel an verschiedenen Funktionen (z.B. der Spannungsversorgung, der Logik: Mikrocontroller, Sensoren und Speicher sowie dem Pumpentreiber) und an zwei Konzeptvarianten („Forschungs-Pille“ und „Pharma-Pille“) zu arbeiten.

Die „Forschungs-Pille“ ist für eine Größe von 10 mm x 27 mm ausgelegt und zur präzisen softwaregesteuerten Medikamentendosierung für pharmazeutische Studien vorgesehen. Sie besteht aus zwei zusammengesteckten Kapselelementen – einer Fluidik- und einer Elektronikhälfte. Auf diese wird die Batteriekappe aufgesteckt und verklebt. Die Fluidikseite besteht aus einer 3D-gedruckten Reservoir-Kappe aus biokompatiblem Material. In der Kappe ist der Fluid-Verteiler eingeklebt. In der Elektronikseite werden die einzelnen Komponenten mithilfe einer gefalteten Flex oder gestapelten PCBs mit eingebetteten Bauteilen dreidimensional angeordnet. So ist es möglich, komplexe Systeme mit einer Einsatzdauer von mehreren Stunden zu bauen.

Die „Pharma-Pille“ soll Patient*innen eine optimale tägliche Medikamentendosierung ermöglichen. Bei diesem Konzept handelt es sich um eine Weiterentwicklung der „Forschungs-Pille“. Ihr Durchmesser beträgt nur 7 mm und ihre Länge variiert in Abhängigkeit der benötigten Medikamentenmenge. Um eine kostengünstige und einfache Fertigung zu gewährleisten, soll die „Pharma-Pille“ aus wenigeren Komponenten bestehen. Eine aussagekräftige Studie ist bis Ende 2024 geplant.

Im Rahmen des „e-Pillen“-Projektes setzen sich die Forscher*innen auch mit Fragestellungen zu material- und prozessbedingten Umweltauswirkungen auseinander. Es ist unter anderem geplant, ein Modell zur Lebenszyklusanalyse (z.B. Stoffmengen, Abmessungen von ICs und Substraten) zu entwickeln, eine Bewertung des Treibhauspotenzials zu erstellen und eine Risikobewertung der Endphase des Produktes (z.B. Auswirkungen auf Abfall- und Abwassersysteme) durchzuführen.


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