RealIZM-Blog-Serie »Green ICT« – Teil 3
Die Forschungsfabrik Mikroelektronik Deutschland (FMD) hat 2022 das Kompetenzzentrum »Green ICT @ FMD« als zentrale Anlaufstelle für Unternehmen, KMUs und Start-ups zum Thema »ökologische nachhaltige Elektronik« initiiert. Das Fraunhofer IZM ist Teil des Green-ICT-Kompetenzzentrums.
Das RealIZM-Team sprach mit Dr.-Ing. Nils F. Nissen, Leiter der Abteilung Environmental & Reliability Engineering am Fraunhofer IZM, über die Notwendigkeit eines standortübergreifenden Kompetenzzentrums, den steigendem Strombedarf von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) und Umweltauswirkungen von Elektronik.
Worin besteht die Notwendigkeit ein Kompetenzzentrum für »Umweltgerechte Elektronik« ins Leben zu rufen?
Dr. Nils F. Nissen: Es gibt mehrere Gründe, warum das Thema »Umweltgerechte Elektronik« immer mehr in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit rückt. Durch verschiedene Umweltgesetzgebungen wächst beispielsweise der Druck auf Unternehmen, sich aktiv mit ihren Umweltauswirkungen auseinanderzusetzen und Herstellungsprozesse von elektronischen Bauteilen und Produkten entsprechend neu bzw. umzugestalten.
Die Entwicklung neuer Sensoren, Chips und intelligenter Steuerungen für zum Beispiel industrielle Anwendungen und Smart Home tragen dazu bei, in den Anwendungen Energie und nicht-energetische Ressourcen einzusparen. Wir nennen das verkürzt »Green-by-ICT«. Zugleich wirkt sich die zunehmende Anzahl von Sensorik und Elektronik in unserem Alltag und auch die steigende Nachfrage nach Anwendungen der Künstlichen Intelligenz und des Maschinellen Lernens negativ auf die Umweltbilanz aus. Es gilt also unter dem Begriff »Green ICT« darum, den Umweltaufwand der IKT selbst zu analysieren und zu reduzieren.
In unserer aktuellen IKT-Studie des Fraunhofer IZM kommen wir leider zum dem Schluss, dass trotz des Fortschritts in den Bereichen der Miniaturisierung, Systemintegration und Energieeffizienz der Strombedarf in der Nutzungsphase von IKT in Deutschland steigen wird. Je nach Fortschritt im deutschen Energiemix wird dies auch den Carbon Footprint (CF, die Summe der klimarelevanten Emissionen) weiter in die Höhe treiben. Dies ist eine Umkehrung des Trends bis etwa 2020, wo der Energieverbrauch und die Emissionen durch in Deutschland eingesetzte IKT am Sinken war. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken und insbesondere die Unternehmen bei der Bewältigung dieser Herausforderungen zu unterstützen sind neue Lösungsansätze erforderlich und die vorhandenen Erkenntnisse müssen viel schneller und breiter in die deutsche Wirtschaft transferiert werden.
Welche Forschungseinrichtungen sind an dem Green ICT-Kompetenzzentrum beteiligt?
Dr. Nils F. Nissen: Unser Forschungsinstitut – das Fraunhofer-Institut für Zuverlässigkeit und Mikrointegration IZM – ist Teil des Kompetenzzentrums. Insgesamt kooperieren 13 Fraunhofer- und Leibniz-Institute unter der Federführung der Forschungsfabrik Mikroelektronik Deutschland. Gemeinsam treiben wir die anwendungsorientierte Forschung im Bereich der Mikroelektronik voran. Wir bündeln unsere Ressourcen und unsere Angebote, um Unternehmen für nachhaltige Elektronik fit zu machen.
Können Sie bitte konkretisieren, welche Vorteile das Kompetenzzentrum für Unternehmen bietet? Wie ist das Fitnessprogramm für nachhaltige Elektronik gestaltet?
Dr. Nils F. Nissen: Das Kompetenzzentrum berät Unternehmen bei Green-ICT-Fragestellungen und unterstützt sie mit Fachexpertise, den Ressourcen- und Energieverbrauch bei der Herstellung und bei der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien so umweltfreundlich wie möglich zu gestalten. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die herstellenden Unternehmen die Umweltwirkungen ihrer elektronischen Produkte in der Gesamtheit betrachten und verstehen. Die Abteilung Environmental & Reliability Engineering am Fraunhofer IZM unterstützt und schult daher bei der Erstellung von Sach- und Ökobilanzierungen für Elektronik.
Viele Unternehmen verfügen nicht über die notwendige Test-Infrastruktur für die Quantifizierung von Umweltverbesserungen. Wir testen elektronische Komponenten auf ihre Effizienz und stellen bei Bedarf auch elektronische Schaltungen und Module oder Testumgebungen zur Verfügung, die noch nicht auf dem Markt erhältlich sind. So ermöglicht das Kompetenzzentrum den fachlichen Austausch und die Weiterentwicklung von Projekten, die noch einen oder mehr Schritt vor dem Markt sind. Eine unserer Kernaufgaben ist es, Unternehmen mit Forschungseinrichtungen, der Industrie und der Politik zu vernetzen.
Sie haben bereits mehrmals die Formulierung »Green ICT« verwendet. Was genau ist damit gemeint?
Dr. Nils F. Nissen: Man muss zwischen Green ICT und Green-by-ICT unterscheiden. Green-by-ICT meint, dass durch den Einsatz von (verbesserter) Elektronik in einem Anwendungsbereich ein Umweltvorteil erzielt wird. Beispiele hierfür sind der Verkehrs- und Bausektor und die Industrie 4.0. Green ICT hingegen bedeutet, dass die Umweltwirkung bei der Herstellung und Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologien so weit wie möglich minimiert wird. Das Kompetenzzentrum fokussiert sich fachlich auf Green ICT.
Es gibt gute Beispiele der Dematerialisierung und Digitalisierung, wo Green-by-ICT viel mehr Einsparung erzielt als für die zusätzliche Elektronik aufgewandt wird. Aber dies gilt nicht in allen Anwendungen und wir sehen daher unsere Aufgabe in den technischen Details wie Elektronik jetzt und in Zukunft gestaltet und eingesetzt wird.
Wie viel Vorwissen sollten Unternehmen mitbringen, die sich mit Green ICT-Fragestellungen an das Kompetenzzentrum wenden?
Dr. Nils F. Nissen: Das Kompetenzzentrum ist eine Technologieberatung für Unternehmen. Grundsätzlich können sich Unternehmen unabhängig vom Grad ihres Vorwissens und ihrer Größe an uns wenden. Das Kompetenzzentrum richtet sich zum einen an Unternehmen, die bereits über langjährige Erfahrung zu ressourcenbewusster Elektronik verfügen. Zum anderen bieten wir ein umfangreiches Schulungs- und Weiterbildungsprogramm für Neueinsteiger*innen in dieses Themenfeld an.
Die Fragestellungen, mit denen Unternehmen auf uns zu kommen, sind sehr vielfältig. Wir bieten Antworten auf Fragen wie z.B. wo und wie sollte ein Unternehmen überhaupt ansetzen, um Elektronik umweltgerechter zu produzieren, wie erstellt man komplexe Berechnungen von Sach- und Ökobilanzen für Elektronik oder wie lassen sich elektronische Komponenten so gestalten und produzieren, um deren Umweltwirkungen zu reduzieren.
Worin besteht Ihrer Meinung nach der größte Irrtum in Bezug auf nachhaltige Elektronik?
Dr. Nils F. Nissen: Ich würde gern mit einem Missverständnis aufräumen. Fakt ist, die 100-prozentige grüne Elektronik gibt es nicht. Ein elektronisches Produkt kann im Vergleich zu vorhergehenden Produktgenerationen grüner sein aber nie wirklich grün. Wenn wir Forschenden und auch Unternehmen von grüner Elektronik sprechen, ist dies immer in Relation zu verstehen.
Aktuell konzentrieren sich Unternehmen in der Außendarstellung auf den Energieverbrauch und den Carbon Footprint bei der Herstellung und Nutzung ihrer elektronischen Produkte. Auf lange Sicht reicht diese Themeneingrenzung nicht aus. Nachhaltigkeit in der Elektronik umfasst weit mehr als die Reduzierung des CO2-Fußabdrucks, und es ist seit Jahren etabliert, dass der ganze Lebenszyklus der Elektronik betrachtet werden muss.
Könnten Sie diesen Punkt bitte weiter ausführen. Worauf sollten sich Unternehmen Ihrer Meinung nach zusätzlich beim Thema nachhaltige Elektronik konzentrieren?
Dr. Nils F. Nissen: In der Umweltwissenschaft wird die gesamte Lieferkette einschließlich der Arbeitsbedingungen betrachtet: Aus welchen Minen stammen die Rohstoffe für die Elektronik? Wie steht es um den Einsatz von toxischen Substanzen in der Elektronik? Wie und in welcher Form lassen sich bestimmte Rohstoffe der Elektronik recyceln und wiederverwenden?
Es ist wichtig, dass wir die Industrie dafür sensibilisieren, alle Umweltwirkungen zu betrachten. Der Fokus ausschließlich auf den CO2-Fußabdruck kann unter Umständen auch kontraproduktiv sein. Im schlimmsten Fall könnten vermehrt toxische Substanzen bei der Herstellung von Elektronik zum Einsatz kommen, nur weil am Ende des Prozesses ein geringerer CO2-Fußabdruck lockt.
»Grüne Elektronik« ist kein eindimensionales Ziel. | © Fraunhofer IZM
Was bedeutet der Begriff »klimaneutral« in Bezug auf Elektronik?
Dr. Nils F. Nissen: Ich sehe den Begriff »Klimaneutralität« als kritisch an, auch wenn zahlreiche Unternehmen ihn verwenden und sich als strategisches Ziel »klimaneutral zu werden« gesetzt haben. Hinter jeder Elektronik stecken industrielle Prozesse. Elektronische High-Tech-Produkte und -Anwendungen sind daher per se nicht klimaneutral. Es gibt weder den klimaneutralen Prozess, noch die klimaneutrale Elektronik oder das klimaneutrale Produkt.
Es ist möglich und erstrebenswert, die Klimaemissionen auf ein Minimum zu reduzieren. Das, was dann noch übrigbleibt, sollte kompensiert werden, indem an anderer Stelle CO2 eingespart oder aus der Atmosphäre genommen wird. Es ist wissenschaftlich daher auch nicht plausibel von »Net Zero« zu sprechen und dies pauschal von Zulieferern einzufordern.
Unternehmen müssen dahingehend beraten werden, was es bedeutet, wenn sie sich als klimaneutral betiteln. Es ist wichtig, Unternehmen vor falsch zugeschriebenen oder auch geforderten Claims zu schützen. Das Kompetenzzentrum hilft Unternehmen, sich korrekt am Markt zu positionieren und überzogenen Forderungen vom Markt und Großkunden gegenzuhalten. Wir befähigen Unternehmen aufzuzeigen, was ihr Klimabeitrag ist, wie sie diesen bereits verringert haben und wo und in welcher Form sie ihn zukünftig noch weiter verbessern können.
Welche Unterstützung bietet das Fraunhofer IZM an?
Dr. Nils F. Nissen: Unser Forschungsinstitut hat einen klaren Fokus auf der Hochintegration von Elektronik, also insbesondere der sogenannten Aufbau- und Verbindungstechnik. Wir beraten und unterstützen im Umweltbereich aber von der Auswahl der Rohstoffe für die Herstellung von Mikroelektronik bis hin zur Bewertung ganzer Produkte und von Netzwerken von Produkten. Im Kern beruhen die Analysen großer Systeme aber immer auf den Details konkreter Technologien, von neuen Varianten von Halbleiter-Packages, über Substraten und Leiterplatten bis zu integrierter Optoelektronik und Hochfrequenzaufbauten. Als Expert*innen für Mikrointegration bringen wir Unternehmen durch innovative, zuverlässige und ressourcenminimierte Aufbau- und Verbindungstechnologien voran.
Zudem erstellt mein Team im Rahmen des Forschungsprojekts »Green ICT @ FMD« Schulungsvideos und wir bieten verschiedene Präsenz- und Online-Seminare an, in denen wir Wissen und Kompetenzen zur Ökologie und Nachhaltigkeit von Elektronik vermitteln und technische Aspekte vertiefen.
Wo und wann bieten sich Möglichkeiten der Vernetzung und des Austauschs in 2024?
Dr. Nils F. Nissen: Dieses Jahr finden zwei wichtige Fachkonferenzen in Berlin statt. Im Juni veranstalten wir als Fraunhofer IZM die internationale Konferenz »Electronics Goes Green 2024+«. Dies ist die weltweit größte Tagung zum Thema umweltverträgliche Elektronik und eine wichtige Austauschplattform über aktuelle Entwicklungen zu den Themen Kreislaufwirtschaft, nachhaltiger Materialeinsatz und CO2-Reduktion in der Elektronikbranche.
Im Oktober findet die »Green ICT Connect« zum zweiten Mal in Berlin statt. Auf dieser zweitägigen Veranstaltung werden Ideen und Herausforderungen rund um Energieeffizienz, Dekarbonisierung und Ökobilanzierung im Bereich grüner IKT präsentiert und diskutiert.
Links: Das ERE-Team des Fraunhofer IZM auf der Green ICT Connect 2023 | © Fraunhofer IZM I Katja Arnhold
Rechts: Green ICT Connect 2023 | © Fraunhofer IZM I Katja Arnhold
Anfang September lädt das Kompetenzzentrum zum »Green ICT Camp« nach Berlin ein. Das einwöchige Event richtet sich an Studierende und gibt ihnen einen Einblick in die Bandbreite an Forschungs- und Entwicklungsmöglichkeiten im Bereich grüner Elektronik.
Das Green-ICT-Kompetenzzentrum bei der Forschungsfabrik Mikroelektronik Deutschland (»Green ICT @ FMD«) ist eine zentrale Anlaufstelle für ökologische nachhaltige Elektronik. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt das Vorhaben im Rahmen der Initiative Green ICT, die Bestandteil des Klimaschutzprogramms 2030 der Bundesregierung ist.
Verbundkoordinator: FMD-Geschäftsstelle
Partner:
Fraunhofer EMFT, München; Fraunhofer ENAS, Chemnitz; Fraunhofer FHR, Wachtberg; Fraunhofer HHI, Berlin; Fraunhofer IAF, Freiburg; Fraunhofer IIS, Nürnberg; Fraunhofer IISB, Erlangen; Fraunhofer IMS, Duisburg; Fraunhofer IPMS, Dresden; Fraunhofer ISI, Karlsruhe; Fraunhofer ISIT, Itzehoe; Fraunhofer IZM, Moritzburg; Ferdinand-Braun-Institut GmbH, Berlin; IHP GmbH, Frankfurt (Oder)
Fördergeber: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)
Laufzeit: 08/2022-01/2026
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