RealIZM-Blog-Serie »Integrative Kreislaufwirtschaft« – Teil 3
Smartphones sind Fluch und Segen zugleich. Ein Segen, weil sie uns Sicherheit bieten und es uns ermöglichen, jederzeit und überall mit unseren Lieben in Kontakt zu treten, Informationen und Nachrichten schnell abzurufen, stressfrei jedes Ziel zu erreichen sowie wertvolle Erinnerungen dank immer leistungsstärkerer Kameras in Ton und Bild festzuhalten und miteinander zu teilen. Ein Fluch, da pro Jahr in Deutschland zirka 1,7 Millionen Tonnen Elektroschrott allein durch Smartphones anfallen. Ferner verändern die Geräte die Art und Weise, wie Menschen miteinander interagieren.
Die intensive Nutzung des Smartphones und auch der sozialen Medien können zu gesundheitlichen und sozialen Problemen führen. Eine radikale Lösung vonseiten der Nutzer*innen wäre, die Quelle der Ablenkung aus dem Alltag zu verbannen und auf jegliche Form der Online-Kommunikation zu verzichten. Ein anderer Ansatz ist, das Design und die Funktionen von Smartphones neu zu denken.
Wie die Gestaltung der Form und Funktionen eines Smartphones eine moderate Nutzung unterstützen und Nachhaltigkeit beleuchten, wird im dritten und letzten Teil der RealIZM-Blog-Serie zum Thema »Integrative Kreislaufwirtschaft«. Dass Smartphones in Zukunft nicht zwingend eckig und groß sein müssen, präsentieren Tapani Jokinen und Robin Hoske mit ihrem Entwurf für das Smartphone MODEST ARCH.
Es gab 2022 schätzungsweise rund 16 Milliarden Smartphones weltweit. Davon wurden 5,3 Milliarden weggeworfen. Die Smartphone-Branche ist ein typisches Beispiel des Überkonsums. In immer kürzer werdenden Zyklen kommen neue Mobiltelefone auf den Markt, die technische Innovationen versprechen. Dies hat zur Folge, dass Nutzer*innen funktionsfähige Geräte gegen neue Modelle austauschen.
Um Nachhaltigkeitsziele bei der Produktion und der Anwendung von elektronischen Geräten zu erreichen, gibt es unterschiedliche Ansätze. Strategien der digitalen Suffizienz hinterfragen die Bedürfnisse der Nutzer*innen und zielen darauf ab, vorherrschende Konsummuster zu verändern. Anstatt des bestehenden Überkonsums soll nur „die wirklich benötigte Menge“ konsumiert werden. Die Idee dabei ist, einen möglichst geringen Material- und Energieverbrauch anzustreben. Dies kann bei der Hardware- und Softwaregestaltung, bei individuellen Verhaltensweisen und ökonomischen Rahmenbedingungen erfolgen.
Den Grundgedanken „ein Smartphone so viel wie nötig, so wenig wie möglich“ zu nutzen, greifen die beiden Industriedesigner in ihrem zweiten Smartphone-Entwurf auf. „Bei unserem ersten Entwurf (MODEST CUBE) stand die Verlängerung des Produktlebenszyklus‘ eines Smartphones durch einen leichten und schnellen Hardwarewechsel im Mittelpunkt. Bei unserem zweiten Entwurf (MODEST ARCH) haben wir gezielt nach Designansätzen gesucht, die eine moderate Nutzung und somit auch das psychische Wohlbefinden der Nutzer*innen begünstigen könnten“, beschreibt Robin Hoske die Ausgangslage für das Designbriefing.
Die tägliche Nutzungsdauer von Smartphones in Deutschland beträgt 2023 in der Altersgruppe der 16- bis 29-Jährigen 177 Minuten und der 30- bis 49-Jährigen 151 Minuten. Die Aktivitäten dauern oft nur wenige Sekunden bzw. Minuten. Interaktionen und Tätigkeiten in der Offline-Welt, die lange Konzentrationsphasen beanspruchen, werden dadurch häufig gestört. Dies wirkt sich auf die Produktivität und auf zwischenmenschliche Beziehungen aus.
Das Konzept hinter MODEST ARCH: Hardware-Reduzierung und minimalistisches Design
Das MODEST ARCH ist extrem kompakt in seiner Größe und zugleich mit neuen bemerkenswerten Funktionen ausgestattet. Aufgrund eines cloudbasierten Betriebssystems besteht das „nackte“ Telefon nur aus einem Webbrowser und es sind nur sehr wenige Bauteile, elektronische Komponenten und Materialien notwendig. Dennoch ist es möglich, das Smartphone mit zusätzlichen Funktionen zu erweitern und bedarfsorientiert zu konfigurieren. Die Grundidee dahinter ist, dass sich Nutzer*innen je nach ihren Bedürfnissen mit dem Gerät als geräteübergreifende Schnittstelle mit einer 5G-cloudbasierten Umgebung verbinden. Als Schnittstelle zu verschiedenen Geräten eröffnet das MODEST ARCH Chancen sowohl für skalierbare Anwendungslösungen als auch für neue digitale Geschäftsmodelle.
MODEST ARCH 3D-Rendering
© Fraunhofer IZM 2023: Tapani Jokinen & Robin Hoske
Gemeinsam mit Hoske geht Jokinen davon aus, dass zukünftig dank 5G-Cloud-Computing zahlreiche gemeinschaftlich genutzte Bildschirme im öffentlichen Raum verfügbar sind. Über diese können Nutzer*innen Cloud-Services und Cloud-Daten jederzeit abrufen, miteinander teilen und interagieren. Die Installation und Aktualisierung von Apps auf lokalen Endgeräten werden überflüssig.
„In den kommenden 10 Jahren werden viele Anwendungen über Virtual Reality und KI-basierte Sprachassistenten funktionieren. Daher haben wir uns für ein kompaktes und minimalistisches Design entschieden“, begründet Hoske die Entscheidung, die Hardware innerhalb des Gehäuses auf ein Minimum zu reduzieren. Alle essentiellen Hardware-Elemente, die normalerweise als feste Bauteile in einem Smartphone integriert sind, wurden ausgelagert. Die Notwendigkeit, die Geräte-Hardware zu aktualisieren, entfällt. Zugleich eröffnen sich Freiheiten bei der Designgestaltung.
Skizzen des neu erfundenen Smartphones der Zukunft: MODEST ARCH
© Fraunhofer IZM 2023: Tapani Jokinen & Robin Hoske
So ist es möglich, ein rundes Interface zu realisieren. Im Gegensatz zu den gängigen Smartphone-Modellen ist das MODEST ARCH mit einer Größe von 51×15 mm kompakt. Der Clou ist seine Form, die perfekt an die Ergonomie der menschlichen Hand angepasst ist und einfache und einhändige Bedienung zulässt.
Ultra-mobiles Gerät – ob als Armband, Halskette, Brosche – das MODEST ARCH kann flexibel getragen werden.
© Fraunhofer IZM 2023: Tapani Jokinen & Robin Hoske
Der Touchscreen ist – angelehnt an die Wölbung der Finger – leicht nach Innen gewölbt. Der Außenring ist teilweise mit einer strukturierten Oberfläche versehen, um einen besseren Griff und sicheren Halt in der Hand zu gewährleisten. Kapazitive Patches ermöglichen Off-Screen-Interaktionen.
Die runde Form des Gerätes spiegelt sich in der Benutzungsoberfläche wieder. Auf dem Touchscreen treffen die Nutzer*innen die Funktionsauswahl über ein sich drehendes Karussellmenü. Die Lautstärke lässt sich durch Drehen des Gehäuserings regulieren. Über Drücken der Umrandung werden Anrufe entgegengenommen.
Vorder- und Rückseite des MODEST ARCH
© Fraunhofer IZM 2023: Tapani Jokinen & Robin Hoske
„Uns ist bewusst, dass dies eine große Herausforderung bedeutet. Bestimmte visuelle Elemente und Darstellungen lassen sich schwieriger oder gar nicht in das runde Interface integrieren. Uns kam es vor allem darauf an, mit einer auf das Wesentliche reduzierten Funktionsausstattung die möglichen Quellen für Ablenkung und Unterbrechungen für Nutzer*innen zu verringern“, erklärt Tapani Jokinen.
Zugleich bieten sich einzigartige Chancen bei der Umsetzung von Funktionen. „Im Fall der Navigationsanwendungen nutzen wir daher taktil-haptische Rückmeldungen in Form von Vibrationen, um Nutzer*innen den Weg zu weisen“, führt Jokinen weiter dazu aus. Das Design des MODEST ARCH ist inklusiv und minimiert mögliche Risiken. Nicht jede(r) möchte sich in einer fremden Umgebung als ortsunkundig zu erkennen geben. Statt wie bisher mit dem Smartphone in der Hand für alle erkennbar zu navigieren, erlaubt das MODEST ARCH dank Gyroskop, GPS und Beschleunigungsmesser eine dezente Orientierung und Bewegung im Raum. Zur Ausstattung des MODEST ARCH zählen außerdem eine hochauflösende Kamera und zahlreiche Gesundheitssensoren, um z.B. Herzströme, optische Herzfrequenz und Sauerstoffgehalt zu messen.
Konfiguration und Funktionen des MODEST ARCH
© Fraunhofer IZM 2023: Tapani Jokinen & Robin Hoske
Eine universelle Fernbedienung für IoT-Umgebungen
Die Themen einfache Reparatur, Langlebigkeit und Nachhaltigkeit spielen auch beim MODEST ARCH eine Rolle. Hochwertige Materialen zielen auf eine lange Lebensdauer ab. Eine Hülle aus recyceltem rostfreiem Stahl oder fossilfreiem SSAB-Stahl kombiniert mit dem Panzerglas Victus Gorilla soll das Smartphone vor Beschädigungen schützen. Bei Bedarf kann das Gehäuse mit einem Standardschraubenzieher geöffnet werden, um den Akku oder Einzelteile schnell und einfach auszutauschen.
Das MODEST ARCH ist für eine interaktive und wandelbare Nutzung ausgelegt. Am besten stellt man sich das Gerät als universelle Fernbedienung für IoT-Umgebungen vor. Je nach Bedarf und Anlass können Nutzer*innen das MODEST ARCH jederzeit und überall mit verschiedenen Benutzungsoberflächen verbinden, um dessen Funktionen zu erweitern und Daten und Inhalte über mehrere Bildschirme und Geräte zu spiegeln. Das 5G-cloud-basierte Gerät kann bedarfsgerecht konfiguriert und für vielfältige Anwendungen eingesetzt werden.
Das MODEST ARCH setzt auf die Vernetzung mit anderen audio-visuellen Oberflächen
© Fraunhofer IZM 2023: Tapani Jokinen & Robin Hoske
Neben den gängigen Funktionen wie z.B. Telefon, Kamera und Wecker wurden auch Erweiterungen mitgedacht, die speziell für neue Einsatzmöglichkeiten des MODEST ARCH ausgelegt sind. So kann es dank CMOS, das die Bewegung auf einer Fläche auf einen Bildschirm überträgt, als PC Mouse genutzt werden. Die Motion-Sensing-Technologie ermöglicht zudem auch die Verwendung als Air Mouse für Augmented Reality-Anwendungen und Spatial-Computing oder als Controller für Spiele.
Einsatzmöglichkeiten und Funktionen des MODEST ARCH im Überblick
1. Basis-Funktionen: Erinnerungen, Benachrichtigungen, Telefon, Nachrichten und Unterhaltung, hochauflösende Kamera, Zugriff auf grundlegende Apps und KI-Assistent
2. Gesundheits- und Fitness-Tracker zur Messung und Analyse von Vitalwerten
3. Sport-Tracker für Outdoor-Aktivitäten
4. Haptische Navigation und Kompass für Fußgänger und Fahrradfahrer
5. Universal-Fernbedienung/ IoT-Multi-Hub für Smart Home, Smart Office und Smart Entertainment-Ökosysteme
6. PC-Mouse oder Touchpad für den Arbeitsplatz
7. Air Mouse für Augmented Reality-Anwendungen und Spatial-Computing oder Controller für Spiele
8. Internet-Hotspot
9. Digitale ID und Zugangsschlüssel
10. Radio-(Wecker) im Schlafzimmer
Umweltfreundliche Elektronik: Pionierarbeit im zirkulären Design
„Bei der Erarbeitung der Designentwürfe MODEST CUBE und MODEST ARCH haben wir die Methoden und Werkzeuge des Baukastens für zirkuläres Design angewandt, die am Fraunhofer entwickelt wurden“, fasst Jokinen zusammen. Das Circular.Design Toolkit unterstützt Produktdesigner, Konstrukteure und Unternehmer ökonomisch und ökologisch ausgewogenen Konzepte – vom Produktdesign über Dienstleistungen bis hin zur Ausgestaltung von Geschäftsmodellen – zu erstellen. „Unsere Arbeit soll der Forscher*innengemeinschaft als Inspiration dienen, wie umweltfreundliche Elektronik ohne Abschläge in Funktion oder Form designt werden kann.“
Jokinen und Hoske sind fest davon überzeugt, dass die Zukunft zirkulär sein wird und lineare Geschäftsmodelle der Vergangenheit angehören werden. Sie prognostizieren, dass sich neue Vertriebswege und -formen zukünftig im Elektronik-Design und dazugehörenden Dienstleistungen widerspiegeln werden. Die Entwicklung von ökonomisch und ökologisch ausgewogenen Produkten sehen sie als Chance, um neue Geschäftsfelder zu erschließen.
Noch sind MODEST CUBE und MODEST ARCH Zukunftsvisionen auf dem Papier. „Reizvoll wäre im Nachgang unseres Forschungsprojektes MoDeSt, gemeinsam mit Herstellern und Industriepartnern beide Smartphone-Prototypen zu realisieren“, erläutert Prof. Dr. Melanie Jaeger-Erben. Um zu überprüfen, wie die beiden Prototypen bei Nutzer*innen ankommen, kann sich die Nachhaltigkeitsforscherin sehr gut ein Testszenario in einem Home Lab bzw. Citizen Science Lab vorstellen. Ihr Wunsch ist, dass sowohl Fraunhofer-Institute als auch andere Forschungseinrichtungen stärker in eine partizipative Technologieentwicklung investieren. Viele Projekte sind bisher nur auf die Entwicklung von hochspezialisierten Technologien und Prozessen ausgelegt.
„Es wäre zu begrüßen, wenn zukünftig auch Fragestellungen nach der direkten Interaktion zwischen Nutzer*innen mit Technologien und die Alltagsforschung mehr Gewicht in der Forschung gewinnen würden“, so Jaeger-Erben. „Langfristig wäre der Aufbau eines Citizen Science Labs in Berlin oder am Standort Cottbus eine coole Sache.
Das Verbundprojekt MoDeSt wurde vom BMBF im Rahmen der Maßnahme „Ressourceneffiziente Kreislaufwirtschaft – Innovative Produktkreisläufe (ReziProK)“ gefördert.
Förderkennzeichen: 033R231
Laufzeit: 01.07.2019 – 30.06.2022
Beteiligte Partner: Fraunhofer IZM, TU Berlin (später BTU Cottbus-Senftenberg), Centre for Sustainability Management (CSM) der Leuphana Universität Lüneburg, Integrated Quality Design (IQD) der Johannes Kepler Universität Linz (assoziiert), SHIFT GmbH und AfB gGmbH
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