Der Weltraumvertrag von 1967 regelt: „Jede Nation hat freien Zugang zum All.“ Seit zirka 20 Jahren starten immer mehr Nationen mit kommerziellen Projekten in den Weltraum. Private Raumfahrtunternehmen planen, mit Mikro– und Nanosatelliten z.B. die weltweite lückenlose Internetversorgung zu erreichen. Ende 2021 kreisten knapp 4.900 Satelliten um die Erde*. Ihre Anzahl steigt derzeit mit hohen Wachstumsraten an.
RealIZM sprach mit Erik Jung, Senior Researcher im Bereich Geschäftsfeldentwicklung am Fraunhofer IZM in Berlin. Wie kam es zu dem Satelliten-Boom? Wie wird Elektronik fit für extreme Umgebungen? Welchen Herausforderungen müssen sich die Akteure des New Spaces stellen? Welche Prognosen gibt es für zukünftige Entwicklungen der Halbleitertechnik?
Was sind aus Deiner Sicht bahnbrechende Entwicklungen im Elektronikbereich, die bereits zur Anwendung im Weltraum kommen?
Erik Jung: Die Mikroelektronik hat einen entscheidenden Beitrag geleistet, um Möglichkeiten im Bereich der Kommunikationselektronik zu schaffen, die vor 20 Jahren noch unvorstellbar waren. Kommunikationssatelliten mit immer höheren Bandbreiten ermöglichen es uns heute, extrem schnell und in sehr hohen Frequenzbereichen Daten zu übermitteln und zu kommunizieren. In der Vergangenheit war Satellitenkommunikation TV-Broadcast. Heute sind es internetbasierte Streaming-Dienste wie Netflix & Co. oder auch echtzeitfähige Börseninformationen.
In der Vergangenheit wurde für die direkte Punkt-zu-Punktverbindung von Kommunikationssatelliten zur Empfangsstation noch mechanisch nachgeführt. Die Übertragung auf eine elektronische Nachführung lässt heute die Herstellung von robusteren und leichtgewichtigeren Systemen zu.
Hinzu kommt, dass für die Erdbeobachtung leistungsfähigere Sensorik verfügbar ist. Mit dieser lässt sich die Erdoberfläche mit viel höherer Präzision in einem breiten Anwendungsfeld, was spektrale Informationen angeht, vermessen. Radar ermöglicht uns, die Oberflächentopographie zentimetergenau zu bestimmen. Erstmals haben wir aus Vogelperspektive einen vollständigen Blick auf das, was auf unserem Planeten passiert. Wir können so beispielsweise großflächige Hochwasser-, Waldbrand- oder Dürreereignisse visualisieren und dokumentieren. Für die Erdvermessung, Landwirtschaft, Wetterbeobachtung und auch für die Katastrophenvorhersage und -begleitung bietet dies zahlreiche Vorteile und neue Anwendungsfelder.
Die Entwicklung neuer Technologien bis zur Marktreife ist sehr kostenintensiv. Wie und von welchen Akteuren wird die Entwicklung von Weltraumelektronik getrieben? Wird in die Entwicklung neuer Space-Technologien investiert, weil eine gewisse Nachfrage vorhanden ist oder weil neue wichtige Forschungserkenntnisse vorliegen?
Erik Jung: Zu Zeiten als Satellitentechnik noch staatsnahen Akteuren vorbehalten war, gab es in der Regel politische und wissenschaftliche Maßgaben, auf denen basierend geforscht und entwickelt wurde.
Mit der fortschreitenden Weiterentwicklung der Kommunikations- und Satellitentechnologien ergaben sich neue kommerzielle Anwendungsfelder, die der Entwicklung weiter Vorschub leisten. Für die Kommunikation zwischen Börsen werden beispielsweise Kommunikationssatelliten eingesetzt, um einfach und sehr schnell Informationen zu übertragen. In diesem Fall zählen Millisekunden, die bei einer kabelgebundenen Übertragung verloren gingen.
Die Verfügbarkeit von leistungsstarken Elektroniksystemen durch die allgegenwärtige Miniaturisierung beschleunigt derzeit die Marktentwicklung und -gestaltung: Satelliten werden kleiner, leichtgewichtiger und höher integriert. Die zunehmende Bedeutung von Mikrosatelliten und deren Erschwinglichkeit lässt immer mehr neue Marktakteure wie beispielsweise Universitäten und kommerzielle Player zu. Mit einem Raketenstart können zeitgleich mehrere Satelliten ins Weltall gebracht werden. Dieses Angebot trifft auf eine große Nachfrage.
In den letzten 20 Jahren fand ein Paradigmenwechsel statt. War die ursprüngliche Herangehensweise: Es gibt eine Idee, dann wird nach einer Finanzierungsmöglichkeit gesucht und viel Geld in das jeweilige Projekt inklusive Komponentenentwicklung investiert – So lautet der jetzige Ansatz: „Verfügbare Technologien, sogenannte COTS-Komponenten, kommen zum Einsatz.“ Theoretisch kann heutzutage jeder einen Satellitenslot bzw. analog zu einem Containerschiff einen Nutzlastanteil an einem Satelliten kaufen. Das ist früher undenkbar gewesen.
Zusammenfassend kann man also sagen: Der Markt für Weltraumelektronik befindet sich im Umbruch. Waren vorher einige wenige staatliche Akteure aktiv, so ist der Markt heute vielfältiger, bunter und auch wirtschaftlicher getrieben…
Erik Jung: Vor dem Hintergrund des heutigen politischen Umfelds darf man jedoch eine Sache nicht vergessen: Es gibt weiterhin Satellitenkonzepte, die zur Verteidigung und Sicherheit zum Einsatz kommen. Das bleibt auch weiterhin Hoheitsgebiet von staatlichen Akteuren. Alle anderen Anwendungsbereiche werden zunehmend durch kommerzielle Akteure bestimmt.
Der Weltraum ist eine sehr extreme Umgebung. Die Temperaturunterschiede reichen von nahe dem absoluten Nullpunkt bis zu extremen Plus-Temperaturen. Wie wird Elektronik fit für den Einsatz im Orbit?
Erik Jung: Bewegt sich ein Satellit über den Orbit, so hat er über den Tagesverlauf eine sonnenzugewandte und eine sonnenabgewandte Seite. Im Innenbereich kann es auf der sonnenzugewandten Seite bis zu hunderte von Grad C heiß werden, während auf der anderen Seite Minusgrade nahe 0K herrschen – noch extremer, wenn es sich um sonnennahe Missionen handelt. Mit Hilfe wärmeleitender Bestandteile wird versucht, ein Ausgleich zwischen diesen thermalen Extremen zu schaffen. Die Verbindungstechnik leidet unter Temperaturzyklen. Ein vielversprechender Ansatz ist die bereits angesprochene monolithische Integration. Alles, was man an Halbleitern und Bauteilen dichter zusammenbringen kann, hilft beim Austarieren der Temperaturen.
Nicht zu vernachlässigen ist die Auswirkung der kosmischen Strahlung auch auf modernste Schaltkreise. Bei heutigen Systemen treten sehr häufig Speicherfehler (sogenannte „Soft Errors“) auf. Diese führen dazu, dass ein Bit umgekippt und in Folge dessen ein anderer Betriebszustand des Halbleiters initiiert wird. Fährt beispielsweise ein modernes Auto ins Hochgebirge, sieht man vermehrt Fehlermeldung der CPU eingehen, weil ein Bitflip passiert. Auf der Erde lässt sich das gut handhaben – im Orbit oder im freien All ist diese deutlich kritischer.
Je höher integriert die Halbleiter-Komponenten sind, umso weniger Möglichkeiten gibt es, einen Bitfehler (Bitflip) zu kompensieren. Bei Halbleitern mit einer Strukturgröße von bis zu 5 Nanometer beträgt die zwischengespeicherte Ladung nur noch wenige Elektronen. Es kann daher sehr schnell kritisch werden. Diesen Herausforderungen kann mit einer gewissen Schaltungsredundanz gegengewirkt werden.
Die Möglichkeit der Abschirmung funktioniert primär gegen Partikel wie beispielsweise Mikrometeoriten und Protonenstrahlung. Gegen die allgegenwärtige Gamma-Strahlung gibt es leider bisher keine Möglichkeit, außer die Verwendung von dickem Material. Das steht jedoch im Widerspruch zu dem Ansatz, möglichst leichtgewichtige Systeme in den Orbit zu schicken.
Die extremen Umgebungsbedingungen des Weltraums – insbesondere die kosmische Strahlung – werden uns zunehmend Probleme bereiten. Die Weiterentwicklung der erdgebundenen Elektronik fokussiert derzeit darauf, CMOS-Technologien weiter hinab auf 2 Nanometer zu skalieren bzw. auf 20 Ångström, perspektivisch nochmal ein Stück kleiner zu machen. Es wäre schade, wenn Satelliten trotz kostengünstiger Produktion nicht fit genug für den Einsatz im Orbit sind. Meines Wissens gibt es in Deutschland nur eine Forschungseinrichtung, die Strahlungsherausforderungen auf Elektroniksysteme prüfen kann. Ich würde mir wünschen, dass es uns gelingt, noch mehr Know-how aus vergangenen Projekten in laufende und zukünftige Forschungsvorhaben zu übertragen.
Inwiefern spielt das Thema nachhaltiger und ökologischer Ressourceneinsatz bei der Entwicklung von Weltraumelektronik eine Rolle?
Erik Jung: Die technischen Herausforderungen, denen wir uns aktuell stellen müssen, um Elektronik fit für den Orbit zu machen und dort betriebsfähig zu halten, bergen andere Prioritäten. Solange Satelliten noch mit Plutoniumbatterien bestückt werden, spielt das Thema neue grüne Technologien nur eine kleine Nebenrolle. Ich bin mir jedoch sicher, dass Entwicklungen in Bezug auf einen nachhaltigen Ressourceneinsatz bei der konventionellen Elektronik langfristig auch positive Effekte auf die Weltraumelektronik haben werden. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund zu sehen, dass zunehmend die Erkenntnisse aus bodengebundener Elektronik ihren Weg in die Weltraumtechnik finde – alleine schon aus Verfügbarkeits- und Kostengründen.
In welcher Form beteiligt sich das Fraunhofer IZM an der Entwicklung von Technologien speziell für den Weltraumeinsatz?
Erik Jung: Forschungsinstitute interagieren grundsätzlich immer mit zahlreichen Partnern. Durch Kooperationen und Wissenstransfer liefern wir wichtige Bausteine für das große Ganze. Am Fraunhofer IZM verfügen wir über die Expertise, Fragestellungen zu Einsatzmöglichkeiten von Aufbau- und Verbindungstechniken in extremen Umgebungen zu prüfen. Im Ergebnis werden dann Empfehlungen ausgesprochen, welcher Ansatz am vielversprechendsten für das jeweilige Projekt sein könnte.
Das Thema Mikrointegration spielt für den Einsatz im Weltraum eine Schlüsselrolle. Die Nachfrage nach einer deutlichen Gewichtsreduzierung bei Elektronik und gleichbleibender bis zu einer verbesserten Zuverlässigkeit ist sehr groß. Das Fraunhofer IZM gehört zu den Vorreitern auf dem Gebiet, Elektronikmodule in Leiterplatten zu integrieren. Unsere Maßgabe lautet: Elektronik immer robuster, kleiner, leichtgewichtiger zu gestalten und mit einer höheren Funktionsintegration auszustatten. Von der initialen Designphase über die Umsetzung bis zur Verlässlichkeitsbewertung leisten unsere Forschungsgruppen einen wichtigen Beitrag zur Modularisierung von Raumfahrtelektronik.
Eine Technologie, die bereits Zugang in die Weltraumelektronik gefunden hat, sind Phased-Array-Antennen. In der Vergangenheit war die Steuerelektronik in einem separaten Steuerblock untergebracht. Jetzt werden Steuerelemente in Antennenpanelen integriert. Dieser Ansatz wurde maßgeblich von Forschenden am Fraunhofer IZM entwickelt und wird kontinuierlich verbessert. Sehr begrüßenswert ist, dass wir in universitäre Vorhaben zu Kleinsatelliten bereits oft sehr früh in die Konzeptphase eingebunden werden. Die Gestaltung der Außenhülle von Satelliten als Antenne ist beispielsweise ein konzeptioneller Ansatz, den wir aktuell diskutieren.
Welchen Herausforderungen müssen sich die Weltraumelektronik-Akteure in den kommenden 10 Jahren stellen?
Erik Jung: In der nächsten Dekade wird der Kostenfaktor die Trends und Entwicklungen der Weltraumtechnologien maßgeblich bestimmen. In der Vergangenheit wurden Komponenten speziell für den Einsatz im Weltraum gefertigt und intensiv getestet. Im Ergebnis waren diese teilweise bis zu 100-mal so teuer wie vergleichbare kommerzielle Komponenten. Inzwischen werden verstärkt auf dem Markt verfügbare Komponenten redundant eingesetzt. Es kommen beispielsweise zwei bis vier identische Systeme zeitgleich zur Anwendung. Fällt eines der Systeme aus, übernehmen die anderen.
Eingangs hatte ich gesagt, dass mit einem Raketenstart heute zeitgleich mehrere Satelliten ins Weltall gebracht werden können. Die Nachfrage nach diesem Angebot ist groß. Je mehr Satelliten im Orbit unterwegs sind, umso größer ist die Gefahr eines möglichen Zusammenstoßes und leider nimmt auch die „Vermüllung des Weltraums“ zu.
Die Lebensdauer von Satellitensystemen wird kürzer und jede neue Generation leistungsfähiger. Erfüllt ein Satellit den Bedarf nicht mehr und ist seine Betriebsdauer überschritten, wird er abgeschrieben. Idealerweise sinkt er über seine Lebensdauer in seiner Orbitalposition ab, bis er nach seiner erwarteten Lebensdauer so stark durch die Atmosphäre gebremst wird, dass er abstürzt und verglüht. Dies ist jedoch nicht immer der Fall. Es gibt daher die Strategie, kommerzielle Satelliten gezielt zum Absturz zu bringen.
Denkbar ist zum Beispiel, mit einem dafür vorgesehenen Treibstoffvorrat den Satelliten zielgenau in eine Absturzbahn zu leiten. Möglich ist auch, im Fall von Mikrosatelliten ohne ausreichend Treibstoff, Segel auszufalten. Diese nutzen den Sonnenwind und den Strahlungsdruck, um den Satelliten abzubremsen, so dass der Orbit kleiner wird und der Satellit schließlich abstürzt. Zudem werden auch Konzepte diskutiert, dass sich Satelliten selbst aktiv entfernen oder diese durch so genannte Müllsammler im Orbit wieder eingesammelt werden.
Welche technologischen Entwicklungen werden innerhalb der nächsten 50 Jahre den Einsatz von Elektronik im Weltraum Deiner Meinung nach bestimmen?
Erik Jung: Ein Ausblick für die Mikroelektronik, der 50 Jahre umfasst, ist sehr schwierig. Die International Roadmap for Devices and Systems (IRDS) gibt nicht ohne Grund nur eine Prognose über die zukünftigen Entwicklungen der Halbleitertechnik für die nächsten 15 Jahre.
In der Mikroelektronik gibt es zahlreiche aktuelle Entwicklungen, die mit einem Versatz von 10 Jahren auch im Weltraum zum Einsatz kommen werden. Bei Antennensystemen ist man mittlerweile soweit, konformale elektronisch angesteuerte Antennen zu realisieren. Deren Prüfung für den Einsatz im Weltraum steht jedoch noch aus. Der Ansatz ist, unabhängig von der Lage des Satelliten dessen optimale Kommunikationsposition elektronisch anzusteuern. Ein positiver Nebeneffekt wäre, dass für eine Lageveränderung kein Treibstoff mehr benötigt würde.
Deutliche Fortschritte sehen wir bereits bei der Energieerzeugung. Es gibt inzwischen Solarzellen, die ein sehr breites Spektrum an Sonnenlicht aufnehmen können – weit über das, was das Silizium eigentlich kann. Die ersten dieser Zellen werden, bevor sie auf der Erde zur Anwendung kommen, bereits im Weltraum eingesetzt. Dort ist der Bedarf deutlich größer.
Ein wichtiger Meilenstein werden vollintegrierte Systeme sein, die photonisch-optische und mikroelektronische Systeme zu einem monolithischen Block zusammenfassen. Im Vergleich zu den heute noch sehr aufwendig zusammenzusetzenden Elementen böte ein monolithischer oder auf Basis sogenannter Heterointegrationstechniken aufsetzender Fertigungsablauf mehrere Vorteile. Er würde die Zuverlässigkeit weiter verbessern, die Kosten reduzieren und zugleich die Funktionalität pro verfügbarem Volumen und pro verfügbarer Fläche erhöhen.
Auch Ansätze aus dem Bereich des Neuromorphic Computing bieten vielversprechende Zukunftsszenarien für die Mikroelektronik. Wir werden zukünftig Systeme sehen, die keine vordefinierte Funktion mehr haben. Um seine Aufgabenstellen erfüllen zu können, konfiguriert sich der Halbleiter mehr oder weniger selbst. Wie ein biologisches Vorbild werden Systeme mit einer gewissen Grundvoraussetzung auf eine Mission geschickt. Unterliegen sie äußeren Einflüssen, können sie sich aktiv an diese anpassen z.B. Speicherbereiche verschieben oder Verbindungen selbsttätig zwischen Speicherbereichen neu konfigurieren.
Wir befinden uns noch in einer sehr frühen Forschungsphase bei Halbleiterkonzepten, die nicht der Von-Neumann-Architektur unterliegen, bei der Rechenwerk und Speicher noch streng getrennt sind. Hier stehen uns spannende Zeiten und Entwicklungen bevor, die frühestens in 10 Jahren marktfähig sein dürften.
Sicherlich wird man in 50 Jahren dem Traum von der „künstlichen Sonne“ – der Kernfusion – einige Schritte näher sein. Erst kürzlich gab es die Meldung, dass es einer chinesischen Forschungsgruppe gelungen ist, den stabilen Plasmabetrieb 1.056 Sekunden lang bei einer Temperatur von fast 70 Millionen Grad Celsius aufrechtzuerhalten. Ob ein Fusionsreaktor, der heute die Größe einer Turnhalle hat, in 50 Jahren apfelsinengroß im Weltall eingesetzt wird, das wird die Zukunft zeigen. Ich würde es mir wünschen, habe dabei aber auch meine Bedenken.
*Quelle: Statista (Stand: 31.12.2021)
Dieses Interview wurde von Katja Arnhold geführt und bearbeitet.
Bild: Volker Mai, Fraunhofer IZM
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